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- Wem gehört die Zeit?
Rezensiert von Prof. Dr. Rüdiger Falk, 02.11.2016
Martin Seiler (Hrsg.): Wem gehört die Zeit?Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH(Stuttgart) 2016. 224Seiten.ISBN978-3-7910-3648-9. D:39,95 EUR, A:41,10 EUR.
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Herausgeber
Martin Seilerist Geschäftsführer Personal der Telekom Deutschland GmbH.
Thema
Seine sogenannte Synopse, die aber garkeine vergleichende Gegenüberstellung von Texten, sondern eher eineZusammenfassung ist, beginnt der Herausgeber mit dem Satz „Zeit istein knappes Gut“. Er stellt zwei Thesen auf: Das Bedürfnis derMenschen nach eigener, frei verfügbarer Zeit steigt stetig undUnternehmen haben radikal kundenorientierte Geschäftsmodelle, welcheflexibel einsetzbare Zeitressourcen benötigen. Hieraus leitet er einDilemma zwischen individueller Zeitsouveränität und flexiblenZeitanforderungen der Unternehmen ab. Anhand von drei Modellen wirdseines Erachtens nach der Nachweis erbracht, dass innovative undflexible Arbeitszeitgestaltung nicht nur sinnvoll, sondern notwendigist.
Aufbau
Die Publikation ist in sechs Kapitelunterteilt, wobei Kapitel 4 den überwiegenden Umfang des Buchesausmacht (S. 35-164; also 70%). Dies zeigt schon, dass es sich nichtum eine gleichgewichtige Konzeption handelt, sondern die dreiErfahrungsberichte aus Unternehmen durch kurze Aufsätze ergänztwerden. Abbildungen, Tabellen und Bilder lockern das Buch auf, wobeiArt und Anzahl in den einzelnen Kapiteln sehr unterschiedlichvorhanden sind. Hinzu kommen ein Abbildungs-, Literatur-, Stichwort-sowie Autorinnen- und Autorenverzeichnis.
Inhalte
Am Beginn steht ein Geleitwortvon Franz Müntefering, der in der demografischen Entwicklungdie Ursache des Wandels sieht. Diese Ansicht wird zwar häufiggeäußert, stimmt im eigentlichen Sinne aber nur für wenigewestliche Industrieländer, insbesondere Deutschland. Und die Fragesei gestattet, ob es wirklich so neu ist, was da vermeintlichgeleistet werden muss: ist steter Wandel nicht gerade ein Kennzeichenprosperierender Gesellschaften und nicht die Ausnahme, als die erderzeit angesehen wird? Vielleicht sollte weniger ängstlich einemAphorismus von Johann Wolfgang von Goethe folgen: „Man musssicher immerfort verändern, erneuern, verjüngen, um nicht zuverstocken.“ Eine Erkenntnis, die jeder Hobbygärtner macht.
Kapitel 1 „Alles eine Frage derZeit“ vom emeritierten Münchener WirtschaftspädagogenKarlheinz Geißler beginnt mit dem Vergleich von Zeit undWasser: Die Zeit ist für die Menschen, was das Wasser für dieFische ist. Rhythmus und Takt prägen und strukturieren dasZeitleben, dies erklärt er im historischen Rückblick. Denentscheidenden Unterschied zur früheren Zeiten sieht er darin, dassder Mensch heute nicht mehr gezwungen ist, im Einklang mit denRhythmen der inneren und äußeren Natur zu existieren – ein These,die sicherlich noch der Verifizierung bedarf.
Kapitel 2 „Arbeitszeit istLebenszeit“ von Herausgeber Martin Seiler ist derVersuch, auf gerade mal zwei Seiten das Dilemma desIndustriezeitalters zu verdeutlichen.
Kapitel 3 „Arbeitszeitmodelleeiner neuer Generation“ von Sascha Stowasser & CorinnaJaeger nähert sich konkreter der Thematik. Auch hier wird alsAuslöser der demografisch bedingte vermeintliche Arbeitskräftemangelangesehen. Es werden dann die klassischen Instrumente derZeitwirtschaft referiert: Chronometrie (Dauer) und Chronologie(Lage). Die Flexibilisierung des Arbeitsvolumens kann durch mitTeilzeit, Jobsharing, Altersteilzeit und Wahlarbeitszeit erreichtwerden, oder durch die Flexibilisierung der Lage und Verteilung, zumBeispiel Gleitzeit, Vertrauensarbeit, Schichtarbeit, KAPOVAZ,Korridore und WAZ, JAZ und LAZ (Wochen-, Jahres-, Lebensarbeitszeitmit Sabbatical). Als innovative Arbeitszeitgestaltung können dieTelearbeit und Erreichbarkeit angesehen werden, die allerdings nursehr kurz referiert werden. Hier hätte man sich mehr Ausführungenzu den gesetzlichen Rahmenbedingungen der Telearbeit und desHomeoffice gewünscht.
Kapitel 4 „Drei Unternehmen –drei Lösungen“ hat eine kurze Einleitung von Heiko Roehl.Es folgt dann das erste Fallbeispiel „Deutsche TelekomKundenservice: Glaubwürdigkeit gewinnt“ von Martin Seiler &Christine Epler. Nach einem kurzen historischen Rückblick werdendie Kernprozesse geschildert und dann vor allem die Gestaltung derArbeitszeit mit den verschiedenen Modellen dargestellt. Das zweiteFallbeispiel stammt von der „ING-DiBa: Mitarbeiter binden undgewinnen“ von Matthias Robke & Corinna Vogt. ImUnterschied zum ersten, rein prozessualen Beispiel wird hiermitnormativ eine bestimmte Zielsetzung vorgegeben. Nach Überblick überden Bankenmarkt wird die Arbeitsgestaltung in Zeit und Organisationwiedergegeben, verschiedene Flexibilitätsmodelle analysiert und derArtikel endet mit „Danke!“. Im dritten Fallbeispiel, das amumfänglichsten ist, geht es bei Olaf Steger um dieBertelsmann Printing Group. „Flexibilität ohne Grenzen? –Besondere Herausforderungen an die Arbeitszeitgestaltung in derDruckindustrie“ lautet die Überschrift und zeigt schon einegewisse Skepsis. Diese wird dann auch begründet, wenn Maschinen- undMitarbeiterkapazität errechnet sowie Schichtpläne erstellt werdenmüssen. Dieses sehr detaillierte und aufschlussreiche Fallbeispielzeigt, dass in industriellen und industrienahen Branchen Sachzwängesehr genaue Zeitpläne bedingen. Es zeigt aber auch, dass dieTarifpartner entsprechende Tarifverträge erst noch abschließenmüssen, die moderne Zeitwirtschaft ermöglichen.
Kapitel 5 „Uns gehört die Zeit.Leitprinzipien erfolgreicher Zeitmodelle“ von Heiko Roehlund Kapitel 6 „Epilog: Am Beginn einer neuen Zeit-Rechnung“von Martin Spilker wollen auf wenigen Seiten die Erkenntnissezusammenfassen. Ob dieses allerdings mit den plakativen Thesen wie„Es geht viel mehr als man denkt“ gelingt, darf zumindestangezweifelt werden.
Diskussion
Bei dem Buchtitel „Wem gehört dieZeit?“ denkt man unwillkürlich an Albert EinsteinsRaum-Zeit-Kontinuum und an Stephen Hawkings „Eine kurzeGeschichte der Zeit.“ Aber es geht hier weder um die physikalischeStringtheorie noch um Kosmologie, sondern schlicht umArbeitszeitmodelle. Der Herausgeber selbst erhebt auch gar nichteinen solchen Anspruch, wenn er sich selbst dabei abbildet, wie die„Fahrkarten wieder zusammengefügt werden.“ (S. 50) Letztlichgeht es um die Schilderung unterschiedlicher Arbeitszeitmodelle beider Deutschen Telekom Kundenservice, bei der ING-DiBa Bank und derBertelsmann Printing Group. Dies sind sogenannte goodpractice-Beispiele, wie sie insbesondere in den Erfa-Gruppen derWirtschaft hohe Verbreitung gefunden haben. Aber reichen dieseModelle aus, um die „Zeit neu zu denken!“, wie es MartinSpilker in seinem Epilog fordert (S. 169)? Wohl kaum.
Aus den drei Beispielen und einigen,theoretisch wenig fundierten Ausführungen können zwar zehn Thesenabgeleitet werden, aber bei weitem kein umfassendesArbeitszeitmodell. Als Henry Ford vor rund einhundert Jahrenden Drei-Schichten-Betrieb erfand oder die Bölkow GmbH mitdem Ottobrunner Modell 1967 als erstes Unternehmen inDeutschland die Gleitarbeitszeit einführte, konnte man vonwirklichen Innovationen sprechen. Dagegen erscheinenWork-Life-Balance oder Vereinbarkeit von Familie und Beruf doch eherals ideologisch-politische Ziele. Die vor rund 150 Jahren inDeutschland mit der großflächigen Industrialisierung begonneneDichotomisierung in Arbeit und Freizeit ist angesichts modernerTechnologien partiell aufhebbar, aber auch dieses kann durchausunerwünschte Folgen haben. Zunehmend werden die Folgen dersogenannten 24/7-Erreichbarkeit auf die Gesundheit und dasFamilienleben diskutiert; hier allerdings nur kurz und unkritisch.Auch die Erosion der Familie als bestimmende gesellschaftlicheEinheit hat hierzu sicherlich Bezüge, doch sollte man nicht denEindruck erwecken, als dass durch Arbeitszeitmodelle diesegesellschaftlichen Folgen zu therapieren oder auch nur palliativ zubeeinflussen wären.
Fazit
DiePublikation ist irgendwo zwischen einem Sach- und einem Fachbuchangesiedelt. Ihr Wert liegt vor allem in den dreiUnternehmensbeispielen, die zeigen, wie in verschiedenen BranchenArbeitszeitmodelle unter den veränderten Marktanforderungengestaltet und vor allem auch implementiert werden können.Unternehmen, die ähnliches planen, können sich an diesen „goodpractice Modellen“ orientieren, wobei die Übertragbarkeit immeräußerst vorsichtig erfolgen muss. Man denke nur an die vielenmissglückten Übertragungen japanischer Erfolgsmodelle in dieeuropäische Industrie. Gerade die Interviews und dieProzessschilderungen geben einen Eindruck davon, wie ein solcherChange-Prozess ablaufen kann, welche Ziele und Probleme damitverbunden sind. Was allerdings keinesfalls erwartet werden darf istein theoretisch fundiertes Konzept moderner Arbeitszeitgestaltung.Das Buch ist im klassischen Sinne praxisorientiert und nicht, sofernman dies als Antagonist sehen möchte, theoriegeleitet. Daher würdeder Rezensent in diesem Fall auch lieber von Erfahrungsberichten mitErläuterungen sprechen als von angewandter Wissenschaft; sofern eseine solche überhaupt gibt. In diesem Sinne ist es durchaus einelohnende Publikation.
Rezension von
Prof. Dr. Rüdiger Falk
em. Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Human Resource Management und Berufsbildung sowie Sportmanagement an der Hochschule Koblenz
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Zitiervorschlag
Rüdiger Falk. Rezension vom 02.11.2016 zu:Martin Seiler (Hrsg.): Wem gehört die Zeit? Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH(Stuttgart) 2016. ISBN978-3-7910-3648-9.In: socialnet Rezensionen, ISSN2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21106.php, Datum des Zugriffs 29.11.2024.
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